Vernissage am 25. November 2001, Evangelischen Kirche, Hochheim
Laudatio von Janssen Peters
In einer Kirche am Totensonntag, umgeben von einer Installation mit dem Titel 'Abschied' – da kommt viel zusammen. Da ist ein Ernst, da lastet eine Schwere, der sich die meisten von uns nicht gerade gern und freiwillig ausgesetzt sehen, – ganz gleich, ob wir nun selbst vom Abschied betroffen sind, oder ob andere in unserer Nähe davon betroffen sind – und wir durch sie.
Woher aber dieser Ernst und diese Schwere, diese Bedrückung?
Ich glaube, es ist die Tatsache, dass sich niemand diesem Thema entziehen kann. Und diese Installation von Annette Becker verfolgt nun keineswegs das Ziel, uns diese Bedrückung spüren zu lassen – dafür sorgen wir ja von ganz allein.
Nein, der Sinn ist der, uns in dieser Unentrinnbarkeit einen Prozess zu zeigen, der den Abschied dem Leben zuordnet, ein Prozess, der aus dem Leben kommt, und der ins Leben zurückkehrt; ein Prozess also, der zwar ernst und schwer, aber für die Lebenden unvergleichlich wertvoll sein kann.
Jeder von uns weiß: Tod, Abschied, Verlust, – auch der Verlust durch Trennungen, wenn ein geliebter Mensch fortgeht und man verlassen zurückbleibt –, das alles gehört ins Leben hinein, so dass es manche sogar mit der Redensart halten: 'Das Leben sei eine Serie von Abschieden.'
Ich glaube, dass dieses Wissen weniger ein rationales Wissen ist, eines, dass wir durch Erfahrung erst erwerben müssten. Sondern ich glaube, dass das ein Wissen ist, das bereits in jeder Seele liegt, das jede Seele ins Leben schon mitbringt, und dass das Erleben und Erfahren von Abschied die Weise ist, wie dieses Wissen freigelegt wird, wie es sich emporhebt und – wenn auch noch so geheimnisvoll und diffus – in unser Leben hineinwirkt.
Natürlich, jenseits dieses Lebens mag dieses Wissen auch gelten, aber das übersteigt sehr schnell unser Fassungsvermögen. Und es kann sogar durch den Drang, sich auszukennen und sich durch diese Kundigkeit zu beruhigen, das verhindern, worum es doch geht: nämlich nicht nur den Abschied auszuhalten und zu dulden, ihn nicht nur in seiner generellen Unvermeidbarkeit hinzunehmen, sondern diesen konkreten Abschied anzunehmen, sich als von ihm ganz konkret gemeint zu erfahren, von ihm ganz konkret angesprochen zu sein, und dieser Ansprache mit der Rücksprache der Hinterbliebenen, der Lebenden und Weiterlebenden zu entsprechen – um so schließlich in ein Gleichgewicht zu kommen, das, so jedenfalls empfinde ich es, mit dem Wort von 'gelungener Verarbeitung' nicht gut beschrieben ist.
Denn jeder Abschied bleibt, jede einzelne dieser Tafeln bleibt, jeder Übergang von der einen zur andren bleibt, diese beiden Reihen links und rechts bleiben, und es bleibt das Ganze in der Summe seiner Teile.
Soll das nun mehr sein, dann muss diese Zeit, muss dieser Raum des Abschieds nicht nur durchlebt und durchschritten, sondern der Raum muss auch verlassen werden. Dann erst haben wir diese Installation ganz im Blick, und erst dann ist sie auch Ausdruck für das hergestellte Gleichgewicht, für diesen Ausgleich, der durch diesen intensiven Prozess des Abschieds gewonnen wird, um dann ins weitere Leben hineinwirken zu können, wodurch dann Abschied ja nicht nur Hinwegnahme und aufgerissene Leere ist, sondern auch Wachstum und Bereicherung bedeutet.
Der Prozess das Abschieds hat für Anette Becker diese beiden Seiten – ich nenne sie einmal die Seite des Abschiednehmens – und die Seite Abschiedgebens. Beide Seiten ergänzen sich, kommen erst miteinander und durcheinander ins Gleichgewicht. Erst beide zusammen werden dem Leben gerecht, – dem, was gegangen ist und doch bleibt, – und dem, was zurückgeblieben ist und doch weitergeht.
Es beginnt mit dem Abschiednehmen – dem Hinnehmen, unfreiwillig. Das wird erlitten – und das ist Schmerz, Trauer, auch Verletzung und Vorwurf – Vorwurf an die Person, die gegangen ist und einen zurückgelassen hat, aber auch Vorwurf an das, was wir das Schicksal nennen, und manchmal sogar Vorwurf an das Leben selbst – und daraus kann dann Trotz werden, die Verweigerung, das Leben noch zu akzeptieren, weil es sich ungerecht zeigt.
Wie diese anfängliche Seite des Prozesses aussieht, das zeigen die schwarzen Tafeln. Natürlich zeigen sie es so, wie es Anette Becker darstellt. Und persönlich ist dabei nicht nur die Wahl der Technik und der Materialien. Das Persönliche zeigt sich vor allem in diesen Schriftspuren, die diese Tafeln wie Schatten durchziehen; Spuren, in denen das Persönliche zum Intimen wird, – so intim, dass sie nicht nur vor dem Betrachter unleserlich bleiben, sondern sie sollen diese Unleserlichkeit auch für die Künstlerin selbst haben, – weil es auf den Wortlaut nicht ankommt; es kommt nicht darauf an, in welchem Wort, in welchem Satz Klage und Anklage ihren Ausdruck finden: Es wird sich ja doch zeigen, dass diese Worte nichts vermögen. Sie sind doch machtlos. Sie steigen empor, und sie versinken wieder, und sie steigen immer wieder empor. Sollte daher eine dieser Tafeln für 'abgeschlossene Verarbeitung' stehen, dann widerlegt sie das selbst durch ihre eigene Wiederholung in der nächsten.
So gesehen ist diese Seite des Prozesses wirklich erschreckend. Dann stehen wir in einem scheinbar unabschließbaren Kampf. Es ereignet sich nur diese Wiederholung, die zermürben kann. Und was daraus erretten könnte, wäre nur noch ein Vergessen aus Erschöpfung.
Aber dann gibt es diese andere Seite – diese helle und geschützte Seite. Anette sagte mir: Als sie an den schwarzen Tafeln arbeitete und in diese dunkle, schroffe und aggressive Seite hineinging und dort Klage und Anklage immer gleich wiederholte, weil sie nichts anderes kannte und sich darin ganz aufzulösen schien, weil das Unrecht noch immer nicht genug bearbeitet war ... dass sie da, bei der vielleicht vierten oder fünften Tafel gemerkt habe:
Etwas fehlt!
Etwas ist in meinem Rücken, das mich auch meint, das mich ruft, weil es auch wahr ist. Und sie habe sich umgedreht und zu dieser anderen Seite hingesehen, auf eine Stelle geschaut, wo lange nichts zu sehen war, aber vernommen sein wollte.
Und es war für mich persönlich der vielleicht wichtigste Hinweis auf diese Installation, als Anette ganz klar sagte: Diese helle Seite, die alles Schroffe verloren hat und in der so viel Sanftes und Gütiges liegt – die war, vor ihrer Entstehung und auch währenddessen, oft schwerer zu ertragen und zu bearbeiten als diese dunkle, diese so vertraute Seite des Schmerzes.
Denn hier zeigt sich der Prozess von einer ganz anderen Seite. Hier ist die Aufgabe plötzlich die, den Abschied zu geben – und so begann die zweite Seite des Prozesses ihre Tafeln einzufordern. Und hier kamen andere Worte und Sätze – und auch hier gleichgültig, welche es waren.
Entscheidend war, dass diese Worte da waren, dass diese Ansprache da war, dass hier die gleiche Kraft der Wahrheit war wie auf der anderen Seite drüben, und dass das vernommen wurde – ihnen also die gleiche Aufmerksamkeit und Arbeit und Wiederholung gelten musste. ... Bis es gut war.
Ich stand vor ein paar Tagen wieder vor diesen Tafeln und habe mich gefragt:
Wo ist mehr Licht? … Auf der dunklen Seite. Hier reflektiert sich das Licht, die Tafeln glänzen und wirken bewegter und lebendiger durch diesen Wechsel von Licht und Schatten, – hier handle ich – und wie anders die helle Seite, über die sich dieser matte Schutz legt … Denn hier lebt etwas von sich her, hier spricht etwas von sich her, ohne meinen Willen, nicht mehr meine Wahrheit, – sondern hier hat etwas von sich her Recht. Und dieses Recht anzunehmen und ihm die gleiche Wahrheit zuzusprechen, – und dann, indem ich das anerkenne, in mir loszulassen – das macht diese Seite für mich zur Seite des Abschiedgebens.
Hier werde ich still und höre auf das, was das Recht hat, an meiner statt zu sprechen, – das Verlorene. Hier lebt es fort, unbeirrbar, geschützt und mit seinem Licht seltsam entzogen, aber genauso in mir – und deswegen bleibend – und durch dieses Bleiben heilend und dem zustrebend, was ich vorhin Gleichgewicht oder Ausgleich genannt habe.
Das ist der Prozess des Abschieds, wie Anette Becker ihn für sich und andere sichtbar gemacht hat. Sie selbst nennt diese Tafeln – jede für sich, aber gerade auch alle zusammen in dieser Installation – eine Projektionsfläche für das, was jeder persönlich und intim im Abschied erlebt oder erlebt hat.
Und ich glaube, dieses Wort von der Projektionsfläche führt sogar einen Schritt weiter hinein in das, was ich anfangs das Wissen der Seele genannt habe. Denn so wie sich jeder Abschied vom anderen unterscheidet, so ist dieses Wissen um den Abschied vielleicht eines, das alle Lebenden miteinander teilen, oder genauer: das sie alle miteinander verbindet – das über den Abschied hinaus verbindet – ohne dass ein Einzelner etwas darüber vermag – es gibt nichts zu tun, um dieses Verbindende herzustellen – es ist da. Aber es gibt etwas zu tun, um dieses Verbindende im besonderen Abschied, im Blick auf dieses Verlorene freizulegen – und sich dadurch auch dankbar zu zeigen für alles, was in dieser Verbindung gegeben und genommen werden durfte, was so dem Leben Kraft und Richtung gab, um jetzt losgelassen zu werden, für immer geschützt, und immer bleibend.
Abschied zeigt sich damit nicht als Zustand. Er ist immer ein Prozess, den jeder nach eigenem Maß durchlebt. Aber: Es gibt immer diesen beiden Wahrheiten, – hier die Wahrheit von Klage und Anklage, von Schmerz, Zorn und Vorwurf, eine Wahrheit, für die nur ich allein einstehe und auf die ein Recht habe; – und dort diese andere Wahrheit, die mich anspricht und wo ich hören und annehmen muss, was mir das Verlorene sagen will, um in sein Recht zu kommen, und um so in mir bleiben zu können, und geschützt zu sein.
Beide Seiten, beide Wahrheiten bleiben, keine hebt die andere auf. Nur zusammen sind sie gültig und stellen diesen Ausgleich her, der dann vollendet wirken mag, wenn die Zeit des Abschieds an ihr Ende gekommen ist – wenn dieser Raum durchschritten ist und verlassen wird. Als ich diese Installation zum ersten mal in dieser Kirche sah, da war ich erstaunt, wie bereitwillig dieser große Raum mit seinen weit auseinander liegenden Wänden diese Tafeln aufnimmt. Und ich verstand Anette, die meinte, der Totensonntag sei geeignet wie kein anderer Tag, um dieses Werk der Öffentlichkeit vorzustellen.
Denn dieses Werk hat nicht überall seinen Platz und nicht immer seine Zeit. Es hat ein Thema, das tief an die Existenz rührt, das tief in die Seele dringt, weil sie darum ja schon immer weiß – aber: durchlebt wird es als Abschnitt – und das Leben mag es nicht, wenn es nicht tun darf, was es will und auch am besten kann: weitergehen – und zwar mit der Kraft des Ausgleichs zwischen jenen beiden Wahrheiten, die beide keine Verleugnung vertragen, weil sie nur zusammen den Abschied vollenden können.
Annette Becker hat einen Prozess des Abschieds durchlebt und ihm in diesem Werk Gestalt gegeben, mit ihren Mitteln. Aber es liegt ihr sehr daran, dieses Werk nun den Menschen zugänglich zu machen, die unmittelbar selbst von diesem Thema betroffen sind und sich vielleicht in diesen Tafeln selbst begegnen – mit ihren Mitteln, auf ihre Weise.
Aber Anette Becker hat dieses Werk zum Thema 'Abschied' abgeschlossen. Sie ist aus diesem Raum des Abschieds herausgetreten, hat dort diese Installation hinterlassen – und längst neue Räume betreten.
Und nach dem zweiten Spiel von Heike Jung sind Sie herzlich eingeladen, dasselbe zu tun und im Atelier auf andere Räume mit anderen Werken von Anette Becker zu treffen.
Ich danke Ihnen