Laudatio von Georg Pape zur Ausstellungseröffnung der gemeinsamen Installation der Geschwister Caroline und Anette Becker, 2004

Liebe Caroline Becker, liebe Anette, liebe Gäste

Eine ungewöhnliche Ausstellung ist das, die wir heute hier er­öffnen. Eine bemerkenswerte, eine verrückte Kunstausstellung. Ver­rückt deshalb, weil sie Maßstäbe ver-rückt,Wahrnehmungen zurechtrückt. Und das ist ja wohl die Aufgabe von Kunst: Wahr­nehmungen zurechtrücken, Maßstäbe verrücken.

Ungewöhnlich ist auch die Tatsache, dass i c h diese Rede zur Eröff­nung halten darf, der ich zwar ein Kunstliebhaber bin, aber kein Kunst­sachverständiger.

Was kann dabei herauskommen, wenn mit der Rede eines Theo­logen eine bemerkenswerte Kunstausstellung eröffnet wird? Herauskommen kann etwas, wenn ich bleibe, der ich bin, wenn bei meiner Identität als Theologe bleibe und nicht vorgebe, kunstsachverständig zu sein.

Was das eine, die Kunst, zu tun hat mit dem anderen, der Reli­gi­on, ist allerdings eine höchst spannende Frage, auf die es im­mer wieder überraschende Antworten gibt. Und zum Glück auch oft verrückte! Auch diese ver-rückende Ausstellung ist ein Ant­wort – eine überzeugende noch dazu.

Zwei Menschen – zwei Seiten einer Installation. Auf der rechten Seite hunderte farbiger Notizzettel, jeder von ihnen auf immer wieder andere Art und Weise mit dem Namen beschrieben: Caroline Becker. 

Auf der linken Seite in gleicher Anordnung und gleichem Format Holz­würfel, mit Acrylspachtel überzogen und ebenfalls beschrieben – in Spiegelschrift. 

Zwei Menschen begegnen einander, stehen nebeneinander und gegenüber, in Korrespondenz wie die zwei Stelen von Anette, die hier auch zu sehen sind. Zwei Schwestern, die sich lange und vor ganz unterschiedlichem Hinter­grund mit Schrift beschäftigen. Plötzlich entdeckt die Ältere, die Künst­lerin, dass die Jüngere, die Epileptikerin, etwas ganz Ähnliches tut wie sie selbst. Sie ist überrascht, ist erschreckt. Wer hat hier wen kopiert? 

Plötzlich ist Verwandtschaft nicht nur biographischer und biologischer Art, sondern wird zur „art“ – jetzt klein geschrieben und englisch ausgesprochen – wird zur „art“ der Verwandtschaft, zur Kunst der Beziehung, wird gegenseitige Berührung und Anrüh­rung, zwischen zweien, die unterschiedlicher nicht sein könnten und einander doch so nah sind. 

Die Schrift ist es, die beide verbindet. Mit der Schrift begann die mensch­liche Hochkultur. Genauer gesagt: mit der Keilschrift der Sumerer. Die Schrift war verlässlicher als Zeichnungen. Schrift muss weniger interpretiert werden, erleichtert Korrespondenz, ist genauer, ist eindeutiger, schafft mehr Klarheit z. B. in ge-schäftlichen Dingen, in Dingen, die überprüfbar sein müssen und messbar. Das ist die Schrift. 

Und das andere ist der Name. Der geschriebene Name. Den kann Caroline schreiben. Und sie schreibt ihn seit Jahren – immer wieder. Und immer wieder anders. Und immer wieder neu. 

Und der geschriebene, in Schrift festgehaltene Name, der hat Gültigkeit. Mit meiner Unterschrift zeichne ich Verträge, unterschreibe ich Briefe und Dokumente. Mein Namenszug, von mir geschrieben – das bin ich. Und niemand anders. Man kann Unterschriften nicht wirklich fälschen. Dieser so geschriebene Namenszug gehört diesem einen Menschen. Und nur ihm. 

Und eben das ist das Thema: Identität. Das bin ich! So bin ich! Und so wie ich bin, bin ich gut, bin ich recht, bin ich ein wert­volles, ein unverwechselbares Geschöpf Gottes. Das steht ge­schrieben. Aber wie viele Menschen bezweifeln das jeden Tag, behindern sich oder werden gehindert an solcher Identität, machen sich das Leben schwer oder ihm sogar ein Ende, weil sie das nicht glauben können. 

Es gehört Mut dazu, sich nicht hindern zu lassen oder sich selbst zu behindern in diesem Glauben an die absolute Würde jedes Lebens, die von nichts und von niemand verletzt oder gar zerstört werden darf. 

Wieviel Erlösung tut not, damit Menschen tun können, was Caro­line Becker seit so vielen Jahren tut: mit der größten Selbst­­ver­ständlichkeit ihren Namen zu schreiben, ihn mit Selbstach­tung auszusprechen. Wieviel Erlösung braucht dazu diese unerlöste Welt?! 

Diese Welt, in der verletztliche Menschen sich schützen müssen, indem sie in Hieroglyphen schreiben oder in Spiegelschrift sich und Gott und die Welt zum Rätsel machen und sich der Rätsel dieses Lebens nähern, indem sie kalte silberne Würfel den Rost der Vergänglichkeit ansetzen lassen – die gerade dadurch an Bedrohlichkeit verlieren und an Leben­digkeit gewinnen. 

Sich an Vergänglichkeit erinnern, an Verletzlichkeit, Grenzen und Tod – das kann lebendig machen, weil es uns menschlich macht. 

Der Rost der Vergänglichkeit macht lebendig. und lebendig ist die Zettelwirtschaft von Caroline, der schon so früh vom Tod Be­droh­ten. Realistischer: Anettes Ängstlichkeit. Die Kühle derer, für die der Tod nur vom Hörensagen existiert und immer nur der Tod anderer ist, aber kaum der eigene ... oder vielleicht doch auch ein bisschen der eigene, weil sich der physische Tod in jeder seelischen Katastrophe und jedem Beziehungstod zu Wort meldet und vorankündigt. 

Paradoxe Welt, in der sich die Maßstäbe verschieben und es plötzlich keine Frage mehr ist, wer von beiden Schwestern behindert oder wer von beiden die Künstlerin ist. Sie sind beide beides! Wie ich auch. Und wie wir alle! 

Es ist eine unglaublich schöne Geste, ein Spiel – aber auch Spielen ist eine Kunst, wie wir nicht erst aus der playing-arts-Bewegung wissen – eine unglaublich schöne Geste also, wenn Caroline die Namenszettel zerreißt und die Schnipsel ihren Pup­pen zu essen gibt – wie die Hostie, die ein Priester Menschen auf die Zunge legt mit den Worten: sehet und schmecket, wie freundlich Gott ist. 

Oder wenn sie die Zettel in Geldscheine verwandelt, ihren Na­men zum Zahlungsmittel macht, zur Währung für dieses Ich, das mit soviel Be­drohung und Todesangst erkauft, ausgelöst, erlöst wer­den musste. 

Die Erlösung, der Name, die Schrift. Auch die Heilige Schrift, die beides miteinander in Zusammenhang bringt: Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, Du bist mein. 

Dieser Satz wird übrigens oft bei Tauffeiern in unseren Kirchen gesprochen. Und er ist einer der Sätze, die das kindlich-religiöse Bild vom Buch des Lebens vor unserem inneren Auge erscheinen lässt – ein Bild, ein Kunstwerk also, das wir brauchen als Aus­druck dessen, was wir fühlen und denken und hoffen: in Ewig­keit ist nicht vergessen, was ich lebe und liebe was ich tue und leide, was ich hoffe und träume. Alles ge­schrie­ben im Buch des Lebens. 

Caroline hat mit 17 verlangt, getauft zu werden! Und Anette wie­derholt mit ihrer Installation das Geschehen dieser Taufe: sie rückt den Namen der Schwester ins rechte Licht. Sie zeigt die Würde dieses Namens und damit die verletzliche und so oft bedrohte Würde dieses Lebens – dieses und ihres eigenen Lebens.

Man beachte die Rahmen etwa um die Häkel- oder Legearbeiten von Caroline. Diese Rahmen, die etwas zum Besonderen machen, was vielleicht sonst achtlos als etwas Alltägliches übergangen würde. 

Anette deckt die Ästhetik auf, ent-deckt die Schönheit im Ge­wöhn­lichen, entdeckt die Kunst im Normalen, ent-deckt das Heilige im Profanen. Und sie macht es sich zu eigen wie der Kleine Prinz die eine Rose, wie die Liebende die Geliebte. Er­lö­sung ist das Thema. Erlösung zum ICH: Befreiung von allem, was mich be-hindert, ICH zu sein. 

Und es ist die Frage nach dem Weg, auf dem ein Mensch lernt, ICH zu sagen, das aber ein anderes ICH-sagen ist als das egomanische, Ge-Ichze, das diese Welt so krank macht. 

Hier stellt sich dem ICH ein DU gegenüber – auf Augenhöhe, wie wir so schön sagen. Anette bleibt sich treu, sich und ihrem Stil und ihrem Thema. Aber sie verwandelt ihr Thema und ihren Stil und sich selbst, indem sie sich Caroline annähert mit ihrem Stil, mit ihrem Thema, und ihrem Selbst. In einer solchen Beziehung zwischen ICH und DU entsteht Neues, verändert sich in Wechselwirkung beides – das DU und das ICH 

Und wo sich etwas verändert, etwas wandelt, transformiert, wo hinter dem, was wir vorfinden, wo in der Wirklichkeit unserer unerlösten Welt, die Ahnung von der anderen Wirklichkeit einer e r l ö s t e n Welt aufleuchtet, ein Hoffnungsschimmer – da ist Kunst im Spiel, genauso wie Religion im Spiel ist und Spiel in der Religion. 

Kunst ist – so hast Du neulich gesagt, Anette – Kunst ist der Ver­such von Schritten der Erlösung. Und das gelte zunächst für die Künstlerin­nen und Künstler selbst. 

Es gilt auch für uns Betrachtende, wenn uns ein Kunstwerk an­rührt und zu eigenen solchen Schritten bewegt, herausfordert, ermutigt: die Würde eines jeden Lebens zu erkennen, trotz aller Brüche und Wider­sprüche, trotz aller Verletzung und Zer­rissen­heit, trotz aller Bedrohungen und Kränkungen. 

Und ein Letztes: Es gibt Videoaufnahmen, die Euch bei der Arbeit zeigen. Und darin wird noch ein anderer Aspekt dessen deutlich, wie ein Schritt der Erlösung aussehen könnte: Für Caroline ist das Tun wichtiger als das Endergeb­nis. Oder andersherum: jedes vermeintliche Ergebnis ist nur wieder Anfang neuen Tuns. Alles ist immer fortwährend. In jedem Ende wohnt ein Anfang, in jedem Tod das neue Leben. 

Ernstgenommen, könnte auch dies unsere Welt verwandeln, unsere an Zwecken orientierte, unsere auf Ergebnisse fixierte, mit aller Gewalt an der Durchsetzung eigener Ziele interessierte Welt transformieren und transzendieren. 

Könnten doch die Mittel die Zwecke heiligen und nicht umgekehrt die Zwecke die Mittel! 

Ich erinnere an die Papierfetzen, die für die Puppen zur Hostie werden, zum Brot des Lebens. In ganz elementarer Form zeigt sich hier, dass Kunst nicht brotlos ist, sondern Lebensmittel sein kann, ein Mittel, das das Leben heiligen lehrt. 

Dass jedes – jedes! – Leben heilig ist, unantastbar, einzigartig, eigenartig: voller Schönheit, voller Würde, und – noch einmal religiös gesprochen – voll von Gott – das zeigt diese Ausstellung. 

Danke für diesen Hinweis, für diesen Anstoß zum Leben. 

Danke, Caroline und Anette Becker.