Vernissage in der Kreuzkirche Dresden am 13. Januar 2005
Laudatio von Janssen Peters
Sehr geehrte Damen und Herren,
seit 60 Jahren gedenken Sie der Zerstörung Dresdens im Februar 1945. Sie sind also damit vertraut, wie viele Zugänge es zu diesem Gedenken gibt, wie viele Räume, die betreten werden können, – Räume, in denen man allein steht oder zu mehreren, in denen man schweigt oder sich mitteilt, – Räume, in denen dem Gedenken auf unterschiedliche Weise Ausdruck und Richtung gegeben wird.
So unterschiedlich diese Zugänge und Räume auch sein mögen, in einem stimmen sie alle überein, – eine Richtung wird überall genommen: Es ist der Wunsch nach Heilung.
Auch diese Installation von Anette Becker folgt diesem Wunsch. Auch sie will einen Raum bereitstellen, in dem der Zerstörung Dresdens gedacht und etwas Heilendes erfahren werden kann.
Auf den ersten Blick sieht das anders aus. Auf den ersten Blick sehen wir etwas wie einen geschundenen Körper, mit offenen Wunden, mit Vernarbungen. Wenn es Sinn macht zu sagen, dass auch Städte einen Leib haben – dieser Leib ist auf beklemmende Weise entstellt.
Und man kann sich fragen: Kann Heilung denn geschehen, wenn eine so drastische Darstellung gegeben wird? Warum wird nichts darüber gelegt, wie ein Verband, irgendein Tuch, um all das in sich zu bergen, was sich an Schmerz und Scham, an Zorn und Schuld mit diesem Ereignis verbunden weiß? Werden hier nicht Wunden aufgerissen, die vielleicht schon am verheilen waren? Wird man nicht zumindest auf Narben gestoßen, die man längst mit frischen Kleidern bedeckt hatte?
Diese Fragen sind berechtigt. Und deswegen geht es in dieser Installation vor allem darum, wie das, was wir sehen, so gesehen werden kann, dass Heilung möglich wird. Könnte es eine Wahrnehmung geben, die als Wahrnehmung Heilung bedeutet? Denn die Fakten können nicht mehr geheilt werden, egal wie vollständig wir sie erfassen. Die Vollständigkeit, das Ganze, das Heile kann nicht in den Tatsachen liegen, sondern allein in unserer Wahrnehmung.
In den nächsten Minuten möchte ich also versuchen, Ihnen einen Zugang zu dieser besonderen Form des Gedenkens zu eröffnen, für die Anette Becker hier in der Kreuzkirche einen Raum gefunden hat.
Dazu möchte ich Ihnen eine kleine Orientierung geben – wie wir uns durch diese Installation bewegen werden: Wir werden von der Turmfigur, die Sie dort auf dem Foto sehen, ausgehen, werden hinabsteigen nach Dresden, und werden dann, für einen flüchtigen Moment, zur Turmfigur zurückkehren.
Verehrte Gäste, Ihnen wird aufgefallen sein, dass mein erster Blick auf diese Installation etwas unterschlagen hat. Ich habe dieses Foto unterschlagen, das Ihnen allen sicher bekannt ist.
Es ist ein sehr verstörendes Foto. Unten die zerbombte, zerschlagene Stadt, und oben diese Figur, in deren Haltung und Ausdruck wir vergeblich all das suchen, was in uns auflebt, wenn wir auf das zerstörte Dresden schauen, – wenn wir uns in Erinnerung rufen, was in der Nacht vom 13. auf den 14.Februar dort geschehen ist: Wir sehen kein Entsetzen, keine Klage, keinen Schmerz und keine Verzweiflung. Wir sehen das genaue Gegenteil, etwas Behutsames, Friedvolles und Gütiges. Und das verwirrt.
Auch Anette Becker war verwirrt. Deswegen schaute sie länger hin. Und plötzlich empfand sie: Von dieser Figur geht Heilung aus. Das ist es, was diese Figur tut: Sie zeigt nicht, weist nicht hin, sondern sie schenkt. In ihrer ganzen Haltung drückt sie Schenken aus, und in diesem Schenken liegt etwas Heilendes.
Das war der Moment, in dem sich ihr das Thema der Zerstörung Dresdens sozusagen aufdrängte. Denn es ist eigentlich ein zu großes Thema. Es wiegt zu schwer, auch weil zu viel Verantwortung daran haftet. In den zwei Jahren jedenfalls, in denen sie an dieser Installation arbeitete, gab es Phasen genug, in denen sie sich dem nicht mehr gewachsen sah. In ihrem Atelier drängte sich zu viel Zerstörung, zu viel Schmerz und Dunkelheit, es waren zu viele Tote da, die gehört werden wollten.
Aber in gewisser Weise kannte sie das schon. In kleineren Maßstäben natürlich. Ihre Werke bewegten sich immer schon um Themen von Verletzlichkeit und Schutz, immer schon waren diese Themen belastend, und das keineswegs nur aus künstlerischer Sicht. Aber sie machte auch immer eine Erfahrung, die dieser Beschäftigung einen besonderen Wert gab.
Dieser Wert lag in einer sehr konkreten Erfahrung: dass wir uns offenbar der Verletzung und dem Schmerz, dem Verlust und der Trauer ganz hingeben müssen, um dann darin unverhofft einem Anderem zu begegnen, das Heilung aufleben lässt. Auf diese Weise entdeckte sie auch, auf welch verborgene und untergründige Weise wir Menschen miteinander verbunden sind. Manche Heilung kann erst geschehen, wenn dieses Verbundensein gesehen wird.
Wenn das alles sichtbar gemacht wird, wenn es aus dem Dunkel unseres Lebens und unserer Seelen hervorgeholt wird – und zwar ausnahmslos alles, was da ist und Beachtung einfordert –, wenn man all dem mit Mut und Hingabe begegnet, es vor sich hinstellt und oft genug lediglich aushält, – dann geschieht immer unverhofft Heilung.
Diese Heilung ist in den Werken von Anette Becker immer anwesend, und sie ist für Menschen, die ähnliche Prozesse durchlaufen wie die Künstlerin, meist spürbar und dadurch präsenter. Wie das genau geschieht, kann ich nicht erklären. Vielleicht hilft es, wenn wir bedenken, dass Heilung unter zwei Aspekten gesehen werden kann:
Da ist das, was wir selber tun können und tun müssen; und da ist das, was – wirklich oder nur scheinbar – von außen hinzukommt, über das wir aber mit all unserem willentlichen Bestreben nichts vermögen.
Der reine Schaffensprozess ist zunächst immer nur dieser erste Aspekt – er ist das, was eben getan werden kann, getan werden muss. Also unverstellt hinsehen, sich ganz hingeben und zu seinem Recht verhelfen, was immer dies verlangt. Das garantiert aber noch keine Heilung. Nichts ‘garantiert’ Heilung. Denn Heilung geschieht nur, wenn jener zweite Aspekt hinzukommt, – derjenige, über den wir nichts vermögen.
Aber kommt er hinzu, dann geht auch er in den Schaffensprozess ein, versenkt sich im Werk und lebt in ihm fort wie ein lebendiger Verweis.
Kommen wir nun zurück zur Installation hier, zur Turmfigur und dem Empfinden, dass sie etwas schenkt, etwas, das Heilung bedeutet.
Es ist klar, dass dies jener zweite Aspekt von Heilung ist, der hier sichtbar wird. Er kommt auch tatsächlich wie aus einer anderen Welt, zumindest von einer höheren, erhabeneren Warte. – Das ist nicht der Grund, warum ich die Rathausfigur von nun einen Engel nennen werde. Das tue ich deswegen, weil Annette Becker von Anfang an in ihr einen Engel sah, – zunächst aus Versehen, dann in unbeirrter künstlerischer Freiheit.
In diesem Engel also lebt dieses Geschenk der Heilung, über das wir von uns her nichts vermögen, das wir uns nicht erarbeiten können. Wir können bereit sein, es zu empfangen, und zu diesem Bereitetsein können wir etwas tun. Aber nicht mehr.
Der Unterschied zu ihren früheren Werken ist also, dass hier das Erleben des Heilenden gewissermaßen am Anfang des Schaffensprozesses steht. Ich sage gewissermaßen, denn wenn es so einfach wäre, dann wäre das Foto für sich ja ausreichend. Es würde ausreichen, es zu betrachten und sich dem Heilenden des Engels und seiner Geste zu öffnen.
Aber das Foto ist nur ein Bestandteil dieser Installation, – zwar ein notwendiger, aber auch einer, der sich in seiner künstlerischen Materialität von den anderen Elementen deutlich abhebt. Es schwebt gewissermaßen über allem, was hier künstlerisch ausgearbeitet ist. Denn das Foto meint nicht schon die Verwirklichung von Heilung. Es ist Hinweis darauf, und es ist Aufforderung.
Bevor wir also, wie angekündigt, nach Dresden hinabsteigen können, müssen wir die Beziehung, die zwischen dem Engel und dem zerstörten Dresden besteht, noch genauer ins Auge fassen. Wir müssen erst noch genauer fassen, wie dieser Hinweis an uns ergeht, und was Aufforderung hier bedeutet.
Widmen Sie sich für ein paar Minuten ganz dem Foto – jetzt, während ich spreche (es hängt je hier über mir), oder später einmal – und versuchen Sie, diese erhabene Position des Engels, seine Geste des Schenkens, die so friedvoll und gütig ist, auf sich wirken lassen, – dann werden sie etwas Erstaunliches erfahren: Sie werden Stille hören. Das akustische Element dieser Installation, das, was Sie im Hintergrund hören können, die Wachstropfen, die zu Boden fallen, dieses Element hat zunächst diesen Zweck: dabei zu helfen, Stille hörbar zu machen.
Und wenn Sie diese Stille zu hören beginnen, werden Sie vielleicht feststellen, dass diese Stille dasjenige ist, was den Engel und die unter ihm daliegende Stadt vereint. Auch Dresden ist vollkommen still.
Und diese Stille verbindet. Es ist diese Stille, in der allein die Wahrnehmung liegen kann, die als Geschenk dargereicht wird, – in der sich Heilung ankündigt, – in völliger und ungeteilter Hingabe an das, was da ist.
Hörbare Stille – und in ihr geborgen eine Wahrnehmung, die heilt, weil sie nichts auslässt, sondern ausnahmslos und vollständig alles erfasst, – das ist das Verbindende zwischen dem Engel und dem in Ruinen daliegenden Dresden.
Aber wir sind noch immer bei einem Engel. Was immer ein Engel sein mag, – wir sind anders. Was also bedeutet das für uns?
Wenn ich die Wahrnehmung des Engels näher beschreiben sollte, würde ich das zunächst nur so tun, dass ich sage, was sie nicht ist: Diese Wahrnehmung ist nicht Urteil oder Wertung, nicht Zahl und Maß, sie meint nicht das Herstellen und Behaupten von Trennung und Unterschied. Nein, die Wahrnehmung des Engel ist in sich beschlossen, ist vollständig und heil. Und unsere Wahrnehmung ist das nicht.
Unsere Art wahrzunehmen ist unvollständig, egal was wir tun. In unserer Wahrnehmung regiert der Unterschied, die Trennung. Sie trennt die Dinge voneinander und uns von den Dingen. Sie trennt uns vom Mitmenschen und von uns selber. Das bedeutet Intelligenz und Macht, bedeutet Kulturleistung und Wissenschaft. Es bedeutet aber ebenso permanenten inneren Streit, inneren Konflikt, der schließlich ausbricht, bis zum Krieg, in dem wir das, was von uns getrennt ist, zerstören und töten – im Wahn, die Trennung, den Konflikt auf diese Weise aufheben zu können.
Mit einem Wort: In unserer gewöhnlichen menschlichen Art wahrzunehmen und kraft dieser Wahrnehmung unsere Welt zu gestalten, vollziehen wir die Tatsache, dass wir unerlöst sind. Und wir erkennen diese Tatsache nicht nur: Wir vollstrecken sie; wir verankern sie mit jedem Gedanken und jedem Tun stärker und tiefer in unserem Wesen und in unserer Welt.
Das ist der Titel dieser Installation: „Unerlöst”. Und nach dem Gesagten ist vielleicht klarer geworden, warum es nicht Dresden ist, das unerlöst ist, sondern unsere Wahrnehmung – also wir selbst, hier und heute. Nur insofern ist diese Stadt unerlöst, als sie ein Gegenstand unserer Wahrnehmung ist und damit an unserer Unerlöstheit teilhat.
Wir wissen ja nichts von den Toten und ihrer Erlösung. Aber es ist vielleicht nicht ganz abwegig sich vorzustellen, dass diese Toten, die mit denen, die ihrer gedenken, verbunden sind, mit ihnen in Unerlöstheit verbunden sind.
Wir gehen langsam hinunter, merken Sie das? Wir betreten langsam das Dresden, wie es in unserer Wahrnehmung da ist. Und wie sieht das aus?
Niemand von uns kann sich der Versuchung erwehren, im Blick auf die Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 Unterschiede zu machen und zu trennen, zunächst die Menschen in der Stadt: Militär und Zivilbevölkerung, Ansässige und Flüchtlinge, Gesunde und Kranke, und dann natürlich Parteigänger und Parteigegner und Mitläufer, Schuldige und Unschuldige, Täter und Opfer – das sind die Maßstäbe, mit denen wir messen, obwohl wir wissen, dass die Grenzen meist fließend sind. Und dann trennen wir die Menschen, die die Stadt angreifen, von den Angegriffenen, und trennen erneut: Schuldige und Unschuldige, Täter und Opfer, Legitimierte und nicht Legitimierte.
Wie immer wir trennen: Es wird nie das Ganze, das Heile erreicht. Aber wir kennen keinen anderen Weg. Wenn wir uns bereit machen wollen, die heilende Wahrnehmung des Engels zu empfangen, dann kann dieses Bereitmachen nur bedeuten, uns ganz dieser Art des Wahrnehmens, unserem Unerlöstsein hinzugeben. Wir müssen uns zu unseren Urteilen und Wertungen, zu diesen Unterschieden und Gruppierungen bekennen, sie alle zulassen und anschauen – und das aushalten. Wir können nichts anderes tun, als uns in das Unerlöstsein hineinzubegeben und dabei nicht zu vergessen, dass es sich niemals aus sich selbst heraus heilen kann.
Es wird das Urteil, die Erkenntnis, das Recht oder Unrecht nie geben, weil es all das immer in einander widersprechenden Formen geben wird. Diese Tatsache können wir nicht übergehen, sondern wir müssen sie ganz auf uns nehmen, – und das heißt auch, die Konsequenzen, die daraus für unser Handeln entstehen, anzunehmen und zu tragen.
Und das ist endgültig der Moment, wo Anette Becker hinabsteigen musste. In ihr Dresden. Sie musste nun beginnen, das zu tun, was wir allein tun können und auch immer tun, solange wir leben: uns zu unserer unerlösten Wahrnehmung zu bekennen und die Konsequenzen zu tragen – mit allem, was darin wirkt an Gutem und Schlechtem, an Schönem und Hässlichem, an dem, was Leben spendet, und dem, was Leben nimmt. Es war nicht genug, all das zu sehen und zu erkennen. Es musste auch ausgeführt werden, was Unerlöstsein bedeutet, nämlich im Extrem: selbst erschaffen – und selbst zerstören; im eigenen Handeln mitvollziehen, was Entstehen ist, und mitvollziehen, was Untergang ist.
Also kam zunächst das Aufbauen der Stadt, dann kam das Zerstören. Diese 49 Stelen wurden geschaffen, mit Hingabe und Konsequenz. Und wurden dann zerschlagen, mit Hingabe und Konsequenz. Das hat Kräfte gekostet, nicht nur körperliche. Es war der Vollzug der schweren Erkenntnis, was der Mensch ist. Es ist schwer, das Unerlöste, den Widerstreit zu wählen im Wissen, ihm nicht aus eigener Kraft entrinnen zu können.
Und dann kamen die sieben Tafeln hinzu. Sie stehen für das Feuer, das alle Unterschiede aufhebt und unterschiedslos vernichtet. Dieses Gleichmachende des Feuers ist noch fürchterlicher als das Zerschlagen und Zertrümmern. In ihm wurde die Zerstörung in ihrer ganzen Unerbittlichkeit spürbar, weil es hier nur noch das qualvolle Ausgeliefertsein gab.
Anette Becker hat in diese Tafeln die Bereichte von Überlebenden hineingeschrieben. Vielleicht, um diesem Ausgeliefertsein die Stimme des Menschen entgegenzusetzen. Aber diese Berichte sind unleserlich, und es tut auch nichts zur Sache, wer welches Grauen erlebt hat. Und was auch immer erlebt wurde – es wurde in den Flammen gleich gemacht.
Es sind auf diesen Tafeln Stellen frei geblieben, sogar eine ganze Tafel für sich, denn es wird niemals eine Vollständigkeit dieser Berichte geben. All die Berichte, die wir bräuchten, um unserem verzweifelten Anspruch nach Vollständigkeit gerecht zu werden, sind mit ihren Erzählern verbrannt oder auf andere Weise dem Inferno zum Opfer gefallen. Und selbst wenn wir sie alle hätten, jeden Bericht und jedes Erleben festgehalten hätten – wir könnten auf diesem Boden, dort unten inmitten der Trümmer, niemals eine vollständige, eine heile und heilende Wahrnehmung erhalten. Selbst die Anhäufung aller Fakten bliebe – aus diese Sicht – nur Stückwerk. Und unerlöst.
Was ist nun geschehen? Als alles fertig gestellt war, so wie Sie es hier sehen, da war in der Tat alles zerschlagen und verbrannt. Aber damit waren auch alle Unterschiede, alle Trennungslinien vernichtet. Es gab nur noch diese Zerstörung, nur noch diesen einen zerschlagen Leib, nur noch dieses eine gleichmachende Feuer. Nur noch das war da.
Und über diese Installation legte sich Stille. Und in dieser Stille – nach all dem Hinschauen auf das Verschiedene, seinem Erschaffen und dem Erleben, wie es dann zugrunde geht – da blieb nur noch eins zurück: der Mensch, wie er in letzter Konsequenz ist, strebend und irrend, gewalttätig und ohnmächtig, und vor allem: der Vergänglichkeit unterschiedslos ausgesetzt, im Leiden und im Sterben namenlos gleich gemacht. Der Leib der zerstörten Stadt ist der Leib des einen Menschen, der scheinbar nur in der Zerstörung ohne Unterscheide sein kann.
Aber wenn die Stille anhält, kündigt sich auch die Möglichkeit jener heilenden Wahrnehmung an – nur andeutungsweise und blass, aber sie kündigt sich an. Etwas Heilendes beginnt, weil das Antlitz des einen geschundenen Menschen uns ja auch sagt, dass jede Verletzung eine Selbstverletzung ist, dass jede Trennung ein Trennung von sich selbst, dass in jedem vereinzelten Tod immer auch der eine Mensch stirbt.
Ich habe Ihnen versprochen, dass wir am Ende wieder zur Figur hinaufgelangen, für einen flüchtigen Augenblick. Natürlich kann ich das nicht wirklich leisten. Dieser Augenblick wird ja geschenkt. Er kann nicht erarbeitet und auch nicht festgehalten werden, wir verfügen nicht darüber. Die Wahrnehmung des Engels ist nicht unsere, solange wir uns als der Zeitlichkeit ausgesetzt erfahren. Nur für einen flüchtigen Augenblick, in dem wir dieser Zeitlichkeit entrissen werden, ist uns diese Wahrnehmung möglich.
Wer dieses Geschenk also empfängt, der kann es zwar nicht halten, aber er wird auch nicht mehr fähig sein, zu vergessen, was diese vollständige, heile und heilende Wahrnehmung für ihn als Menschen bedeutet. Denn was immer sie für einen Engel bedeuten mag, – für den Menschen bedeutet sie das Aufleuchten einer Gewissheit, die sein Leben verwandeln kann, – ihn zwar nicht erlöst, aber ihn den Zustand des Unerlöstseins völlig anders erleben und gestalten lässt.
Dieser flüchtige Augenblick, diese Gewissheit hat sich, als die Arbeiten an dieser Installation beendet waren, für Anette Becker ereignet. Plötzlich, ohne es noch zu erwarten, an den Ausgangspunkt dort oben jemals zurückkehren zu können, und ohne irgendein bewusstes Dazutun – plötzlich befand sie sich dort oben und schaute hinab.
Es war dabei weniger sie, die mit den Augen des Engels schaute. Es war der Engel, der mit ihren, mit menschlichen Augen hinabschaute.
In diesem Hinabschauen, mit dem Engel in sich, kann man von der Tatsache überwältigt werden, dass der Mensch sich überwinden kann: sich zu dem einen, ganzen, heilen Menschen in sich bekennt, und entsprechend da ist. Anette Becker empfand diesen Augenblick mit den Worten: wie unschätzbar das Glück sei, Mensch sein zu dürfen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit