Vernissage am 27. Juni 2004 in der Trauerhalle Hochheim

Laudatio von Janssen Peters

Friedrich von Hardenberg, der sich als Dichter Novalis nannte, hat die Worte geschrieben:

„Jeder Schmerz ist eine Erinnerung unseres hohen Ranges."

Ich glaube, dass diese Installation von Anette Becker an diesen hohen Rang rührt. Sie tut das nicht programmatisch, nicht als eine Kunst, die sich zuerst erhabenen und abstrakten Ideen verpflichtet, um diese dann in ästhetische Formen zu bringen.

Sie tut das, indem sie sich Erfahrungen, die persönlicher und intimer kaum sein können, vollkommen öffnet und dabei den gestalterischen Impulsen, die in diesen Erfahrungen wirken, mit Mut und Lauterkeit folgt. Anders, glaube ich, wäre eine Kunst­aus­stellung an einem solchen Ort, einer Trauerhalle, ein vielleicht zu großes Wagnis.

So aber kann jeder, der diese Halle betritt, nicht weil er an Kunst interessiert ist, sondern weil er sich schmerzlich vor das Mys­te­rium des Todes gestellt sieht, sicher sein: Diese Kunst, diese Installation wird ihn nicht belehren, wird sich ihm nicht in willentlicher oder unfreiwilliger Beredsamkeit aufdrängen; nein, diese Installation findet sich in dieser Halle ein wie ein Angebot, das selbst dann zu wirken imstande ist, wenn es als bloße An­we­senheit diesen besonderen Raum dabei unterstützt, betroffe­ne Menschen in ihrem Abschied zu begleiten.

Diese Installation umgeht also den Schmerz nicht, der allem Ab­schied anhaftet und ihn beschwert; sie berührt ihn sehr direkt. Aber sie behandelt ihn so, dass durch ihn hindurch eben das aufscheint, was Novalis den hohen Rang des Menschen nennt, ein Rang, der uns über das kreatürliche Erleben und Erleiden auch hinaushebt und in eine Sphäre hineinstellt, in der der Mensch vielleicht mehr zuhause ist, als ihm sein unstetes, sorgenvolles und von Vergänglichkeit gezeichnetes Leben glauben macht.

Dieses Hinausgestelltsein in eine höhere Sphäre, dieses Erin­nert­werden an einen höheren Rang – das sehe ich hier wirken, aus einer diskreten, respektvollen Distanz heraus, die jedem Abschied entgegengebracht werden muss. Vielleicht muss ich sogar sagen: Es wirkt zunächst gerade in einer Unauffälligkeit, deren tieferer Grund die Bescheidung ist, mit der Anette Becker all ihre Werke anderen Menschen als seelische Projektions- oder Spiegelflächen anbietet.

Von jener 'höheren Sphäre' und von den Wegen, auf denen Anette Becker sie mit ihrer Kunst erschließt – ohne dass das so etwas wie ein Hauptanliegen von ihr wäre –, möchte ich Ihnen in den folgenden Minuten ein wenig erzählen. 

Anette Beckers Kunstschaffen begann mit gegenständlicher Malerei. Was nur wenige wissen. Diese Bilder gelangten nie an die Öffentlichkeit. Dafür mag es viele Gründe geben. Einer aber war sicherlich, dass deren thematische Intimität viel zu durchsichtig war. Diese Bilder waren vollkommen ungeschützt. Und so empfand sich wohl auch die Künstlerin selbst. 

Sie musste einen anderen Weg nehmen. Nicht etwa, um weni­ger 'verräterisch' zu sein, um Geheimnisse zu hüten, indem diese raffiniert verschlüsselt und verschleiert wurden. Nein, sie musste einen anderen Weg nehmen, weil eine solche ungeschützte Darstellung einfach nicht dem entsprach, was wirklich geschah. Denn das, was wirklich geschieht, wenn wir unser Inneres näher kennenlernen, ist eine sehr dichte Mischung auf Verletzlichkeit und Schutz. 

Wir stellen ja, wo wir tätig sind, wo wir dazu beitragen, diejenigen zu sein, die wir dann allem Anschein nach sind, nicht die Verletzlichkeit her, sondern deren Schutz. Es wäre sogar mög­lich, dass viele Aspekte unser so genannten Identität die Ergeb­nisse solcher bewussten wie unbewussten Schutzbemühungen sind. 

Ohne also diesen Schutz mit ins Schaffenszentrum zu rücken, wäre die Darstellung der Verletzlichkeit zu einer Halbwahrheit hinabgesunken, einer kraftlosen zumal. 

Ihre erste große Arbeit, mit der Anette Becker diesen neuen Weg beschritt, trug denn auch den Titel Schutzmechanismen. Was sich in diesen Anfängen auszubilden begann, war diese besondere Technik, Oberflächen herzustellen, in denen eine schon fast fleischliche Nacktheit mit verschiedenartigen schützenden Schichten überzogen wurde. Das ist ein sehr aufwen­diger Prozess. Schicht um Schicht wird aufgetragen, um dann teilweise wieder entfernt zu werden. Dazu werden Zeichen hineingeschrieben – Zahlen, Worte, Sätze, meist in Spiegel­schrift, immer aber unleserlich und auf ebenso verstörende wie reizvolle Weise geheimnisvoll. Und dann wurden alles von mehr oder weniger soliden, mehr oder wenige durchlässigen Schutz­schichten überzogen. 

Diese Technik hat sie immer weiter verfeinert, abgewandelt, mit verschiedensten Materialien, Formen, Farben. Das waren langwierige und oft quälende, von manchem Rückschlag und man­cher Vergeblichkeit gekennzeichnete künstlerische Prozesse. 

Aber je sicherer die Handhabe des Materials, die Kenntnis sei­ner Tücken und Möglichkeiten wurde, desto weiter und tiefer konnte Anette Becker das anfängliche Thema verfolgen und ausweiten: Was ist diese Verletzlichkeit – warum ist sie – wo bedroht sie uns, und wo beginnt der Schutz, uns zu bedrohen, weil er uns von fruchtbaren Prozessen des Lebens isoliert. 

Ich möchte nicht auf die einzelnen Werke eingehen, die so entstanden. Hinweisen möchte ich jedoch auf große Installation Beziehungsfeld, mit den ihr zugehörigen Bildreihen Ahnen­gale­rie und Gedankenbilder. Dieser Werkkomplex entstand im letzten Jahr, und in ihm manifestiert sich die Ausweitung und Vertiefung des Themas besonders deutlich – eine Ausweitung und Vertie­fung, die auf eine ganz elementare Erfahrung zurückging: 

Anette Becker machte die Erfahrung, dass Verletzlichkeit und Schutz zwar den Einzelnen im Innersten betreffen; aber gerade indem sie das tun, weisen sie auch über ihn hinaus, hinein in das Geflecht engster menschlicher Beziehungen, ob familiärer oder partnerschaftlicher Natur. 

Es ist, als ob wir die Codierung dieser Geflechte in uns tragen, als ob tief verborgen in uns selbst die Öffnungen liegen, durch die hindurch wir mit anderen verbunden sind – im Leben – und über es hinaus. Und dann wird klar, dass auch die Schutzmecha­nismen in einen größeren Zusammenhang hineingehören, dass sich auch in der Verletzlichkeit, von der sich ja gerade der Einzelne in seiner Vereinzelung bedroht sieht, ein Gemeinschaft­liches ausspricht. 

Und diese Erfahrung – dass wir in einem Seelenraum, der sich abgeschlossener und verborgener kaum denken lässt, dass wir gerade dort, auf dem Grund unserer Seele, zu dem wir durch das bewusste Erleben von Verletzbarkeit und Schutzbedürfnis durchbrechen – dass wir dort, in dieser gravierendsten Selbstbezogenheit plötzlich uns hineingefügt erfahren in einen Zusam­menhang, der uns umfasst, der uns in sich birgt, ganz gleich was wir tun oder nicht tun – diese Erfahrung war nur möglich durch das Erleben und Zulassen eines tiefen, alle Furcht vor Verletzung überrennenden, alle Schutzmaßnahmen vereitelnden Schmerzes – der Schmerz des Abschieds. 

Und so kam es zur ersten Installation Abschied, die einige von Ihnen hier in Hochheim, in der evangelischen Kirche, bereits gesehen haben. 

Das war vor zweieinhalb Jahren. Damals orientierte sich der Schaffensprozess noch recht genau an der zeitlichen Abfolge eines konkret durchlebten Abschiedsprozesses. Man konnte zu­sehen, wie sich zuerst der Schmerz in Ohnmacht und Wut ­ver­wandelte, in ebenso verzweifelte Klagen wie Anklagen führte, die sich das dunkle und schroffe Firnis des Verlustes einschrie­ben, immer und immer wieder, Tafel um Tafel, scheinbar unerhört und unerlösbar. 

 Bis dann das Erstaunliche geschah: dass plötzlich in dieses düstere Lärmen eine Stille einbrach. Und in dieser Stille erhob sich eine andere Stimme, die, so empfand es Anette Becker, auch vernommen sein wollte. 

Etwas scheinbar oder wirklich Fremdes erreichte sie also mitten im andauernden Hineinstützen in den eigenen Abgrund des Schmerzes, – etwas forderte sie auf, nicht länger immer nur die eigene Qual laut werden zu lassen, sondern still zu werden und hinzuhören, und sei es auch nur in den Phasen der Erschöpfung. 

Und so entstanden nach und nach die hellen Tafeln, in denen das Verlorene plötzlich selber sprach, sich mitteilte über Dinge, die auch gesagt sein mussten, um den Abschied in sein ganzes Recht kommen zu lassen. Und dabei ist es nicht die Seite des Trostes; Trost würde ja ganz im Gegenteil hier, auf die dunklen Tafeln, eine Wachsschicht auftragen wollen – und damit diese Wahrheit trüben, ja verfälschen. 

Nein, es ist gerade die unbeirrte Eigenständigkeit dieser Seite, von der her ein Zuspruch erfolgt, der mich ins Gleichgewicht bringt, ein Zuspruch, auf den ich keinerlei Einfluss habe, außer ihn zuzulassen, indem ich mich loslasse, der dann mit eigener Autorität spricht und unter seinem matten Schutz von unendlich sanfter Unberührbarkeit ist. 

Schwieriger, das sagte Anette damals, sei daher oft die Kon­fron­tation mit dieser hellen Seite gewesen, schwerer zu ertragen und schwerer zu bearbeiten. Schwieriger ist manchmal das, was Heilung ausstrahlt. Leichter, näher dran an unserer ja un­aus­weichlich selbstbezüglichen Existenz – ist der Schmerz. 

So entstanden schließlich zwei Reihen, die – einander gegen­übergestellt – die Zwiesprache des Abschieds in ein Gleich­ge­wicht brachten. Der Abschied gestaltete sich zu einem Erlebens­raum, der in seiner Gänze durchschritten sein musste, in dem nichts entfernt werden durfte, und in dem die beiden Wahr­heiten, wie sie sich in den beiden Tafelreihen zum Ausdruck brachten, zugelassen werden mussten. 

Aber der entscheidende Punkt war, dass das, was über den Schmerz hinausführt, nur in der konsequenten Hingabe an ihn erfahren werden konnte. Gewissermaßen fanden sich die hellen Tafeln im absoluten Zentrum des Schmerzes. Der Schmerz und alles, was er zu Recht wie zu Unrecht an Verhalten und Urteil an die Oberfläche zu bringen zwang – dieser Schmerz selbst ist offenbar der Durchgang zu etwas, was jenseits dieses Schmer­zes liegt und ihm in eine völlig neue Bedeutung beimisst. In diesem Hindurchgehen durch den Schmerz kommen wir in das Wirkungsfeld jenes 'hohen Ranges', von dem Novalis spricht. 

Aber – und das darf nie verleugnet werden – indem der Schmerz auf diese Weise durchbrochen wird, bleibt er doch Schmerz. Kein Mensch will den Schmerz, und nichts ist verständlicher, als ihn zu fliehen oder ihn wenigstens ab- oder einzudämmen, wo es geht. Aber nur, wenn man den Schmerz ganz Schmerz sein lässt, erst dann wird das Ganze, der vollständige, ebenso unge­störte wie unverfälschte Erlebensraum des Abschieds gewährt – dieses Anrühren an eine Sphäre, in der die, die zurückbleiben, mit denen, die gegangen sind, in eine tiefere, friedvolle und dem Leben ungeahnt wieder zuarbeitende Gemeinschaft kommen. 

Es ist nicht leicht, diesen Rang, diese Sphäre mit Worten näher zu beschreiben, und Schmerz ist keineswegs der alleinige Zu­gang zu ihr. Es muss genügen, in ihr die Kräfte der Vergebung, der Liebe, einer Zuwendung zu sehen, die von aller sei es ver­zwei­felten, sei es trotzigen Selbstverhaftung befreit ist. Diese Sphäre trägt jeder Mensch in sich, aus dieser Sphäre empfängt jeder Mensch zeitlebens entscheidende Impulse, und nur, weil wir sie so leicht vergessen in unseren angestrengten und sorgenvollen Aktivitäten, werden wir an sie meist nur erinnert im Schmerz, und woran diese Erinnerung rührt, erfahren wir in der mutigen und redlichen Hingabe an diesen Schmerz, – eine Hin­gabe, die ihn nur durchbrechen kann, wenn sie ihn ganz auf sich nimmt. 

Anette Becker hat sich in diese Hingabe ein zweites Mal hinein­gestellt. Diese Installation hier unterscheidet sich ja von der ers­ten. Angefertigt wurde diese hier vor zwei Jahren, ausgestellt bereits im letzten Jahr in der Bergkirche in Worms. 

Das Unterscheidende liegt zunächst nur im Format. Die Tafeln sind etwa um das vierfache größer als ihre Vorgänger. Aus einfachem Grund: Anette Becker hatte alle handwerklichen Hürden genommen, sie wusste, welche Materialien welche Handhabe zuließen - und welche inneren Prozesse sie erwarten würden. Und so konnte sie sich durch ihr Schaffen eine sehr schmerzlichen Abschiedserfahrung aufgreifen, deren biographische Tiefe weit in die Kindheit zurückreichte und bis dahin noch nicht in ihr Gleichgewicht gekommen war. 

Diese Tafeln sind nicht nur größer. Sie wirken schwerer, massiver. Sie sind selbstbewusster. Sie strahlen ihr Wissen aus, warum sie da sind, wozu sie gut sind. Und ich habe den Eindruck, dass es diese größere Selbstsicherheit, diese eingestandene Gewich­tigkeit ist, die diese Installation schließlich an diesen Ort hier geführt hat. 

Gestern, als wir diesen Raum mit seiner feinfühligen Architektur, mit seiner Einbindung in den Verlauf des Abschiednehmens, des 'letzten Weges', noch einmal auf uns wirken ließen, als wir die ungewöhnlich weiche, reine Akustik zum ersten Mal erlebten, als Heike Jung ihr Cembalo einspielte, – da sah ich, wie Anette an ihren Tafeln entlangging, mit einer Behutsamkeit, die mich auf ganz neue Weise bewegte. 

Sie lief nämlich nicht nur an ihren Tafeln entlang, – an einer nach der anderen, – erst die eine Reihe, dann die andere, – sondern fuhr dabei mit einer Hand über ihre Oberfläche. Anette Becker legt ja Wert darauf, dass ihre Werke nicht nur angeschaut, sondern auch berührt werden. Und gestern konnte ich sehen ich, was sie damit meint. 

Ihre Hand schien Dinge aus den Tafeln herauszulesen, die nur sie wiedererkennen konnte, aber die offenbar in ihnen längst ein Eigenleben führen, das sie in diesen Raum hier hineinstrahlen, vielleicht wirklich weniger sichtbar als fühlbar. Schmerz, Leid und Klage hier, und sanfte, in ihrer Güte heilende Zusprache dort. 

Dies zusammen ist die Erfahrung jenes 'hohen Ranges', der in der Überwindung der unerbittlichen Vereinzelung liegt, in uns der Abschied hineinwirft. Aber in dieser Vereinzelung, im Durch­brechen unserer Maßnahmen, uns selbst fortwährend zu schüt­zen, in der Hingabe an den Schmerz, erfahren wir, dass diese Vereinzelung nicht das Endgültige, ja nicht einmal das Eigent­liche unseres Lebens ist. 

Und da ich mit einem Dichterwort begonnen habe, möchte ich auch mit einem Dichter schließen – mit einer Passage aus einem Brief Rainer Maria Rilkes, die in wie eine Erläuterung des Novalis-Wortes erscheint – und folglich wie eine Erläuterung dieser Installation von Anette Becker. Mit dieser Passage möchte ich gern schließen. Rilke schriebt dort: 

„Die Zeit „tröstet“ ja nicht, wie man oberflächlich sagt, sie räumt höchstens ein, sie ordnet … Nicht sich trösten wollen über einen Verlust müsste unser Instinkt sein, vielmehr müsste es unsere tiefe schmerzhafte Neugierde werden, ihn ganz zu erforschen, die Besonderheit, die Einzigartigkeit gerade dieses Verlustes, seine Wirkung innerhalb unseres Lebens zu erfahren, ja wir müssten die edle Habgier aufbringen, gerade um ihn, um seine Bedeutung und Schwere, unsere innere Welt zu bereichern … Ein solcher Verlust ist, je tiefer er uns trifft und je heftiger er uns angeht, desto mehr eine Aufgabe, das nun im Verloren­sein hoffnungslos Betonte neu, anders und endgültig in Besitz zu nehmen: dies ist dann unendliche Leistung, die alles Negative, das dem Schmerz anhaftet, alle Trägheit und Nachgiebigkeit, die immer einen Teil des Schmerzes ausmacht, auf der Stelle überwindet, dies ist tätiger, innen wirkender Schmerz, der einzige, der Sinn hat und unser würdig ist." 

Ich danke Ihnen.