Interview mit der Künstlerin
Welche Verbindung gibt es zwischen „Unerlöst” und „Unter der Zeit”?
Becker: Diese 200 Würfel entstanden, als ich am schwersten Teil von „Unerlöst” arbeitete. Das war die Arbeit an den Stelen. Jede einzelne musste ich mit großem Aufwand zerstören. Das hat mich enorme Energien gekostet. Ich war am Rand meiner Kräfte – körperlich und psychisch.
Und da suchte ich nach einem Halt in diesem schrecklichen Prozess aus Gewalt und Auflösung. Dabei spürte ich dann ganz vage einen zweiten Weg, mit diesem Thema umzugehen, und dem folgte ich. Er führte mich in eine Art Distanz hinein, die es mir auch möglich machte, das Verhalten der Menschen nach dem Krieg besser verstehen zu können. Denn der Aufbau der Wandinstallation mit ihren 200 Würfeln gab mir Ruhe, Kraft. Da spielt das hinein, was wir Verdrängung nennen. Die ist ja nicht nur schlecht. Sie schützt uns auch vor einem Zuviel, das wir nicht mehr bewältigen könnten. Diese monotone Arbeit mit ihren immer gleichen Arbeitsschritten schob das Schreckliche weg, – nicht so sehr das Thema selbst, sondern das Schreckliche daran. Diese Beruhigung war besonders stark bei der Arbeit mit dem Wachs.
Die gewählten Materialien sind ja typisch für Ihre Arbeiten. Sie erwähnten eben das Wachs. Welche Funktionen hat es in diesem Werk?
Becker: Das Wachs bildet eine Schutzschicht. Diese Schicht kann aber gegen harte Angriffe nicht wirklich schützen. Sie kann sogar wie eine zusätzliche Verletzbarkeit wirken. Es hat also weniger mit effektivem physischem Schutz zu tun als mit dem Bedürfnis nach Schutz, das gezeigt werden soll – und indirekt auch das Geschützte ein wenig zeigen soll. Und das Wachs demonstriert, dass Schutzschichten das Leben ja nicht ersticken dürfen.
Das Gefühl darunter ist eine Art Sicherheit, die ich allerdings als gedämpft bezeichnen würde, ein bisschen vielleicht wie in einer Verpuppung. Die anderen Würfel dagegen zeigen eine ähnliche Oberfläche wie die Stelen von „Unerlöst”. Sie stehen für die Realität, für das Erlebte in seinen Grausamkeiten und Schrecken, die ja im Menschen verbleiben – wie bewusst auch immer.
Diese beiden Seiten und Würfeltypen sind sehr gegensätzlich und passen doch irgendwie zueinander. Was hat es mit diesem Kontrast auf sich?
Becker: Beide Seiten arbeiten zusammen, sie bedingen sich wechselseitig. Hier die Zerstörung, der Rostfraß, der ja immer weiter geht, – dort das Geschützte, das wie neu wirkt, hell und sanft. Es ist sicher auch Ausdruck für das Weiterleben oder Überleben, wenn man unter diesem Schutz ist.
Ich fühle mich auch an Arbeiten mit den Trümmern nach dem Krieg erinnert. Man hat aus dem Chaos Ordnung gemacht – ganz schlicht, indem man Steine neu anordnete. Eine enorme Leistung, innerlich und äußerlich. Aber nicht endgültig. Es ist eine Etappe.
Das bringt mich auf den Titel „Unter der Zeit”. Was bedeutet er?
Becker: Sehen Sie, diese Installation hat etwas Bewegtes. Etwas arbeitet in ihr. Ich meine damit nicht das Arbeiten, das immer stattfindet, wenn Kunst auf den Betrachter wirkt. Sondern hier arbeitet etwas im Werk selbst. Diese zwei Tafeln sind nicht starr und nicht endgültig. Etwas pulsiert in ihnen. Bei aller Ruhe ist eine innere Spannung zu spüren. Etwas geschieht, auch wenn alles geordnet scheint. Der Rostfraß zeigt das, und auch das Gefühl, dass das Wachs nicht ewig schützen kann. Diese ganze Ordnung bleibt also anfällig und verletzlich, sie kann das Alte nicht loswerden und das Neue nicht verewigen. Zwar hilft die Wachs-Seite, Normalität wieder herzustellen. Aber das nicht verarbeitete Thema bleibt benachbart, rumort weiter und nagt weiter. Es ist ein untergründiges Geschehen, aber mit geschichtlichen Auswirkungen – für den Einzelnen ebenso wie für den die Gemeinschaft. Irgendwann könnten beide Seiten zu einer einzigen, völlig neuen verschmelzen. Aber eine durch die andere ersetzen kann man nicht. So ein Thema wird ja immer weitergegeben, von Generation zu Generation. Und Erlösung kommt nicht durch Wegsehen, sondern durch Hinsehen und durch ein bewusstes, stilles, heilendes Weitergeben.